Münchener Bach-Tradition

Wenn man von „Bach-Stätten“ in Deutschland spricht, meint man natürlich zuerst Leipzig mit dem weltberühmten Thomanerchor und der Thomaskirche, Bachs letzter und längster Wirkungsstätte. Daneben sind es die traditionellen Lebens- und Wirkungsstätten Bachs wie Eisenach, Arnstadt, Mühlhausen, Weimar und Köthen, die alljährlich tausende musikbegeisterte Besucher anziehen. Dann folgen Städte wie Dresden, Lübeck, Lüneburg, Berlin und Hamburg, in denen Bach weilte… München und Bayern können da nicht „mithalten“, denn Bach war niemals dort.

Doch es gibt etliche direkte Verbindungen von Bach nach Bayern. München selbst verbindet man eher mit Mozart, Wagner, Bruckner, Strauss, Mahler, Hartmann und Orff. Doch die sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelnde „Münchener Bach-Pflege“ wurde seit den 1950er Jahren weltweit zum Begriff.


Ein Blick zurück hilft

Aus Bayern (u.a. Lindau, Augsburg und Ansbach) kamen Schüler Bachs. In Nürnberg, wo in den 1730-1742er Jahren Bachs Italienisches Konzert, die Französische Ouvertüre, seine Orgelmesse, die Goldberg-Variationen und die Canonischen Variationen über Vom Himmel hoch gedruckt wurden, wirkte viele Jahre an der Hauptkirche St. Sebaldus der Komponist und Organist Johann Pachelbel, der zur Bachfamilie intensive Kontakte unterhielt. Im 19. Jhd. entdeckte der Komponist und Dirigent Franz Lachner Bach für Bayern neu, indem er 1842 erstmals dessen Matthäus-Passion in München aufführte. Max Reger, der glühende Bach-Verehrer, der Bachs Kontrapunktik mit neuer, kühner Harmonik verband, kam aus der Oberpfalz und lebte einige Jahre in München. Der aus Augsburg stammende Pianist und Komponist August Schmid-Lindner gab die Klavierwerke Bachs heraus und spielte sie auf einem zweimanualigen Konzertflügel. 1910 gründete der Komponist Alfred Stern eine erste Bach-Vereinigung, die dann 1918 in den Münchner Bach-Verein überging. Als führender Kopf in der regelmäßigen Bach-Pflege in München gilt der Cellist und Gambist Christian Döbereiner, der zu den bedeutendsten Pionieren der historischen Aufführungspraxis im frühen 20. Jhd. zählt. Er führte als erster historische Instrumente in seinen Konzerten ein und leitete die ersten Bach-Feste in München (1. MBF war 1925). 1934 übernahm er von Carl Orff die künstlerische Leitung des Bach-Vereins. Orff hatte als Leiter des Ensembles mehrfach mit konzertanten und szenischen Aufführungen alter Musik experimentiert: u.a. mit der fälschlicherweise Bach zugeschriebene Lukas-Passion (1932) und die Auferstehungshistorie von Schütz (1933). (NB:  Aktuelle Hinweise gibt es inzwischen darüber, dass die Mitglieder des inneren Kreises der Weißen Rose um Sophie und Hans Scholl im Chor des Bach-Vereins sich trafen – es ist mehrfach die Rede vom „Bach-Chor“. Über die Zeit des 2. Weltkrieges gibt es kaum verlässliche Informationen).


Karte des Kurfürstentums Bayern im 18. Jahrhundert Nicolas Sanson Amsterdam, 1700/1780. Kupferstich. Deutsches Historisches Museum Berlin
Karte des Kurfürstentums Bayern im 18. Jahrhundert Nicolas Sanson Amsterdam, 1700/1780. Kupferstich. Deutsches Historisches Museum Berlin

Nach dem 2. Weltkrieg gründete der im Dresdner Kreuzchor ausgebildete und als Thomasorganist in Leipzig wirkende Karl Richter nach seiner Übersiedlung nach München den Münchener Bach-Chor und das Münchener Bach-Orchester, prägte maßgeblich die Bach-Woche Ansbach, führte die Bach-Feste München wieder fort und warb mit seinen beiden Münchener Bach-Ensembles – quasi konkurrenzlos – für Bachs Musik in aller Welt. Auf ihn und sein umfangreiches Wirken geht die Begeisterung der späteren Pioniere der historischen Aufführungspraxis für Bach zurück. Sein Nachfolger Hanns-Martin Schneidt kam aus der Tradition des Leipziger Thomanerchors und führte mit teilweise neuen Ansätzen die Arbeit mit Bach-Chor und Bach-Orchester fort – trotz zunehmender Konkurrenz in Sachen „Bach“ auch in München.

Im 21. Jahrhundert angekommen, steht seit der Saison 2005/06 der aus der Tradition des Dresdner Kreuzchors stammende Dirigent, Organist und Cembalist Hansjörg Albrecht als künstlerischer Leiter des Münchener Bach- Chores und Bach-Orchesters international als Aushängeschild für die aktuelle Münchener Bach-Pflege. Albrecht, der die Werke Bachs und seiner Zeitgenossen in der Tradition der Barockzeit von den Tasteninstrumenten aus leitet, gilt als Universalmusiker, musikalischer Grenzgänger und Querdenker ohne Berührungsängste. Seinen beiden Bach-Ensembles hat er leidenschaftlich den Weg hin zur historisch informierten Aufführungspraxis geebnet und konzertiert mit ihnen von Rom über Salzburg, Warschau und Budapest bis Moskau und Tokio.


Das besondere Alleinstellungsmerkmal von Münchener Bach-Chor, Münchener Bach-Orchester, Münchener Bach-Akademie & Hansjörg Albrecht ist – im Gegensatz zu vielen neuen „Anbietern“ in der Münchener Musikszene – die Kontinuität in der historisch informierten Aufführung und Vermittlung der gesamten Palette des Bachschen Oeuvres, welche nicht nur die Werke für Soli, Chor und Orchester und die Chor-Musik beinhaltet, sondern auch den umfassenden Kosmos seiner Kammermusik, der Orchesterwerke und dessen Orgelkompositionen.


„Bach Modern“ meint nicht nur eine moderne, eigenständige und lebendige Interpretation und Vermittlung von Bachs Musik im Hier, Jetzt und Heute, sondern auch in Reflektion und Auseinandersetzung mit der Musik der Verehrer Bachs bis ins 21. Jahrhundert.